Unter Risikokompetenz versteht man den vernünftigen und informierten Umgang mit den Chancen und Gefahren einer modernen, technologischen Welt. Die Voraussetzung dafür ist ein gutes Verständnis von Zahlen und Statistik, aber auch von Psychologie: Warum fürchten sich Menschen vor bestimmten Dingen und vor anderen nicht?
Ich gebe viele Seminare für Ärztinnen und Ärzte. Dabei zeigt sich, dass einem Großteil der Teilnehmenden statistisches Denken fremd ist. Sie können Zahlen nicht richtig interpretieren, selbst wenn es dabei um Dinge geht, mit denen sie in ihrem Fachgebiet täglich zu tun haben. Deshalb können sie auch nur schwer beurteilen, wie wahrscheinlich eine Erkrankung oder der Erfolg einer Behandlung ist.
Vor einiger Zeit habe ich eine Fortbildungsveranstaltung für 160 Gynäkologinnen und Gynäkologen geleitet, die alle jahrelange Berufserfahrung hatten. Zum Einstieg habe ich ihnen folgende Aufgabe gestellt: „Sie machen ein Mammografie-Screening und wissen, dass die Basisrate für Brustkrebs in dieser Gegend bei einem Prozent liegt. Und Sie wissen, dass eine Mammografie eine Sensitivität von 90 Prozent und eine Falschalarmrate von neun Prozent hat. Nun fragt eine Patientin mit einem positiven Befund Sie nach dem Screening: ‚Frau Doktor, wie wahrscheinlich ist es, dass ich jetzt tatsächlich Krebs habe?‘ Was sagen Sie?“ Die Antworten meiner Seminarteilnehmer schwankten zwischen einem und 90 Prozent, die meisten tippten auf 80 bis 90 Prozent. Die richtige Antwort lautet: zehn Prozent. Ähnliche Situationen erlebe ich bei fast jedem Seminar. Zahlenblindheit ist die Regel, nicht die Ausnahme.
(Lacht) Nein, ganz sicher nicht. Und am Ende der Fortbildung, nach weniger als 90 Minuten, können die allermeisten auch problemlos Aufgaben wie die oben genannte lösen. Der Grund ist, dass die medizinische Ausbildung einen blinden Fleck hat, wenn es um statistisches Denken geht. Die Bedeutung dieser Fähigkeit wird nicht erkannt und entsprechend auch nicht vermittelt. Statistisches Denken muss man aber gezielt lernen, selbst mathematisch geschulte Menschen können das nicht ‚einfach so‘.
Sie kann zum Beispiel dazu führen, dass Ärztinnen und Ärzte ihren Patienten mit falschen Risikoeinschätzungen Angst einjagen. Oder dass sie Untersuchungen und Behandlungen empfehlen, die nutzlos oder sogar schädlich sind. All das verursacht vermeidbares Leid und hohe Kosten, sowohl für Einzelne als auch für das gesamte Gesundheitssystem.
Der erste Schritt ist, statistisches Denken zu lernen. Das ist weniger kompliziert als viele glauben. Im Alltag kommt man schon mit einfachen Methoden sehr weit. Zum Beispiel, indem man statt in Wahrscheinlichkeiten in Häufigkeiten denkt. Bezogen auf das Beispiel einer Brustkrebswahrscheinlichkeit, das ich oben genannt habe, heißt das: Statt an eine Person zu denken, denkt man 100. Die Erwartung ist dann, dass von diesen 100 eine Brustkrebs hat und ihr Mammografiebefund auch positiv ausfällt. Von den 99, die nicht an Brustkrebs erkrankt sind, werden voraussichtlich neun ebenfalls ein positives Testergebnis haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich eine Erkrankung vorliegt, liegt bei eins von zehn – oder eben bei zehn Prozent.
Genau, denn längst nicht alles lässt sich quantifizieren. Deshalb ist es ebenso wichtig zu verstehen, warum Menschen vor bestimmten Dingen Angst haben. Das ist ja längst nicht immer rational. Viele Menschen in Deutschland fürchten sich zum Beispiel vor Spinnen, obwohl sie genau wissen, dass es hier keine giftigen Exemplare gibt. Die Angst ist aber trotzdem da. Oder Impfungen: Wir wissen inzwischen, dass ein nicht unerheblicher Teil derjenigen, die sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen, einfach Angst vor Spritzen hat. Ärzte, die diese emotionalen Hintergründe verstehen, können darauf eingehen und letztendlich erfolgreicher arbeiten.
Ja, und das kann eine Herausforderung sein, weil auch die meisten Patienten nicht gelernt haben, Risiken realistisch zu bewerten. Deshalb kommt es besonders darauf an, dass Ärztinnen und Ärzte klar kommunizieren. Das heißt, sie müssen Informationen über die Chancen und Risiken von Erkrankungen und Behandlungen so aufbereiten, dass sie für möglichst viele Menschen verständlich sind. Nur dann können die Patienten eine gute Entscheidung für ihre Gesundheit treffen.
Es gibt viele Hilfen, die Ärztinnen und Ärzte nutzen können. Auf der Webseite des Harding-Zentrums für Risikokompetenz findet man zum Beispiel Faktenboxen über viele medizinische Themen, die man sich einfach herunterladen und im Wartezimmer auslegen kann. Natürlich wird es dennoch immer Patienten geben, die weitere Erklärungen brauchen. Dafür sollte man einen festen Workflow in der Praxis oder im Krankenhaus etablieren. Häufige Fragen kann zum Beispiel eine der medizinischen Fachangestellten beantworten und damit Arzt oder Ärztin entlasten.
Die Digitalisierung ist ein Segen für das Gesundheitswesen. Risikobewertung wird durch sie aber eher noch anspruchsvoller. Schließlich muss man noch mehr Informationen einbeziehen und einschätzen. Wer mit statistischem Denken und emotionalem Verständnis an die Sache herangeht, wird aber auch in einer digitalisierten Welt risikokompetent entscheiden und handeln können.