Es gibt tatsächlich einen signifikanten Zusammenhang zwischen Stress und Bestleistung; das ist unser optimaler Stresspunkt. In einem Zustand leichter Überforderung schüttet das Gehirn Noradrenalin aus. Der Botenstoff hilft uns, fokussiert und präsent zu sein, in den sogenannten Flow-Zustand zu kommen und so Höchstleistungen zu erreichen. Wenn wir hingegen gar keinen Stress verspüren, merkt unser Gehirn, dass es sich nicht anstrengen muss, und wir werden gelangweilt und müde.
Der optimale Stresspunkt ist jedoch bei jedem Menschen anders: Manche kommen schon bei niedrigen Stresswerten in ihren optimalen Zustand. Andere brauchen viel mehr Stimulanz für ihre persönliche Bestleistung. Und genau da liegt das Problem im Klinikalltag. Die dortige Arbeitssituation nimmt nicht ausreichend Rücksicht auf diese unterschiedlichen Stresspunkte. Deshalb überfordert der Klinikalltag viele Ärztinnen und Ärzte stark und dauerhaft.
Im Grunde brauchen wir drei Neurotransmitter für unsere Höchstleistungen, die je mit einem Gefühl verknüpft sind. Der Fun-Faktor steht für Freude, zum Beispiel durch ein Gefühl von Sinnhaftigkeit. Dadurch schüttet das Gehirn Dopamin aus, das wirkt wie ein Turboantrieb. Zweitens brauchen wir den Fear-Faktor; dabei geht es um den optimalen Stresspunkt und die Ausschüttung von Noradrenalin. Der dritte Faktor ist der Focus-Faktor. Wenn wir abgelenkt sind, wird nicht genug Acetylcholin ausgeschüttet, der entscheidende Neurotransmitter für die Konzentration. Wir brauchen also einen ausbalancierten Cocktail aus diesen drei Zutaten, um Bestleistungen zu erbringen.
Die meisten Menschen versuchen, Stress rein mental zu bekämpfen. Tatsächlich führt aber der einfachste Weg, Stress zu bewältigen, über den Körper. Wenn der Körper entspannt ist, ist auch das Gehirn entspannt! Dieses Wissen kann man nutzen, indem man zum Beispiel autogenes Training oder die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson einsetzt. Oder Atemtechniken, die den Körper bewusst herunterfahren. Ausreichend Schlaf und eine gute Ernährung sind auch ganz wichtig.
Ja, auch wenn der Spielraum für Entspannung im typischen Klinikalltag mit seinen langen Arbeitszeiten und den wenigen planbaren Pausen natürlich gering ist. Mein Tipp sind regelmäßige Mikropausen, die nicht länger als ungefähr eine Minute dauern. In dieser Zeit tritt man bewusst aus der Situation heraus und sammelt sich. Das kann man mit einer ganz einfachen Atemübung unterstützen, die als STOP-Übung bekannt ist. Die Abkürzung steht für Stop, Take a breath, Observe, and Proceed; also innehalten, durchatmen, beobachten, weitermachen. Eine solche Mikropause kann man zum Beispiel immer zwischen zwei Patienten einplanen. Wichtig ist, dass man sie dann auch wirklich immer macht. Damit setzt man einen mentalen Anker und hält die Pausen auch langfristig besser ein.
Grundsätzlich gilt: Kurzfristiger Stress ist gut fürs Gehirn, langfristiger Stress ist schädlich. Kurze Stressimpulse ermöglichen uns Höchstleistungen. Aber sobald Stress chronisch wird, greift er das Gehirn an. Die Amygdala vergrößert sich und der Serotoninspiegel sinkt. Teile des Gehirns schrumpfen sogar. Das reduziert natürlich unser Leistungsvermögen, und wir stecken ganz schnell in einer Überforderungsspirale fest.
Ja, chronischer Stress ist reversibel. Dafür muss man lernen, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen! Wir müssen ehrlich reflektieren, was wir schaffen können und was nicht und diese Grenzen verteidigen. Leider gibt es dafür keinen magischen Trick. Sondern wenn es zu viel ist, ist es zu viel. Und das „zu viel“ ist, wie schon erwähnt, bei jedem Menschen anders.
Wenn ich es schaffe, mich im Klinikalltag abzugrenzen, muss ich parallel dazu Maßnahmen zur körperlichen Entspannung in meinen Alltag integrieren – nur so kann sich auch das Gehirn entspannen. Schlaf und Bewegung müssen im Alltag priorisiert und gute Gewohnheiten entwickelt werden: Das kann der Kaffee morgens auf dem Balkon sein oder die Mittagspause an der frischen Luft, schön draußen in der Sonne.
Grundsätzlich sollten Kliniken sicherstellen, dass neben dem Arbeitsalltag ausreichend Zeit für Familie und Freunde bleibt. Unser Gehirn ist nämlich sehr sozial, das heißt, wir fühlen uns besser und weniger gestresst, wenn wir soziale Unterstützung erfahren. Klinikleitungen müssen aber vor allem verstehen, dass Menschen unterschiedliche Neurosignaturen haben: Manche haben ein sehr aktives Dopaminsystem, brauchen immer wieder Abwechslung und können relativ viel Stress verkraften. Bei anderen ist das Serotoninsystem aktiver, sie arbeiten sehr gewissenhaft und brauchen weniger Stress.
Menschen mit aktivem Östrogensystem haben eine gesteigerte Empathie und gute kommunikative Fähigkeiten. Und wer eher ein aktives Testosteronsystem hat, legt typischerweise Wert auf Einfluss, übernimmt gern Verantwortung und ist sehr stressresistent, weil Testosteron neuroprotektive Eigenschaften hat. Die vier Neurosignaturen ergänzen sich sozusagen. In einem gut funktionierenden Krankenhaus braucht man jede von ihnen.
Genau, und das ist tragisch. Wenn ich als Patientin im Krankenhaus bin, wünsche ich mir, dass die Ärztin oder der Arzt mir zuhört, empathisch und freundlich ist – gerade, wenn es mir schlecht geht. Ich möchte aber auch jemanden, der sehr gewissenhaft arbeitet. Die Medizinerinnen und Mediziner dieser beiden Neurosignaturen vertreiben wir auf Dauer leider, wenn das Arbeitsumfeld zu stressig ist. Dann bleiben nur die übrig, die besonders stressresistent sind. Aber das sind nicht zwangsläufig in jeder Situation die besten Ärztinnen und Ärzte für die Patienten. Eine optimale Klinik braucht, wie gesagt, Menschen mit allen Neurosignaturen. Daher lautet mein Appell, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das allen vier Typen gerecht wird.
Man kann einiges tun, um der Überforderung im Alltag entgegenzuwirken. Drei Tipps für ein entspannteres Leben:
Immer mehr Menschen werden aufgrund von neurologischen und psychischen Krankheiten berufsunfähig, während Krebserkrankungen als Ursache leicht zurückgegangen sind. Dies ist ein bundesweiter Trend. Bei Ärzten, Zahnärzten und Apothekern, die bei der Deutschen Ärzteversicherung eine Berufsunfähigkeitsversicherung haben, waren folgende Gründe ausschlaggebend:
Quelle: Statistik der Leistungsfälle der Deutschen Ärzteversicherung seit 2005 mit Stand 2018